Die nicht-zeremonielle Unterscheidung von rein/unrein in 3, Mose 11 innerhalb ihres Kontextes

Die Anordnung der Belehrung über reine/unreine Tiere innerhalb des Kontextes des 3. Buches Mose ist von entscheidender Wichtigkeit für ihre Bedeutung und ihren Zweck. Das 3. Buch Mose besitzt allgemein anerkannte große Themengruppen: 3. Mo 1-7 enthält die göttlichen Vorschriften in Bezug auf das Opfer; 3. Mo 8-10 enthält Anweisungen bezüglich der Priester; 3. Mo 11-15 behandelt rein und unrein; 3. Mo 16 konzentriert sich auf den großen Versöhnungstag, den Tag der Reinigung des Heiligtums; 3. Mo 17- 27 enthält nicht-rituelle und rituelle Gesetze mit verschiedenen Ermahnungen.(15)

Es ist nicht unsere Absicht, die strukturelle Form des 3. Buches Mose zu studieren. Das wäre viel zu komplex und umfangreich. (16) Wir werden versuchen, unsere Beobachtungen auf den unmittelbaren Kontext des Speisegesetzes zu begrenzen.

Frage: Wurde das Speisegesetz in 3. Mo 11 in diesen größeren Rahmen der allgemeinen Instruktion  über  rein  und  unrein  im  3.  Buch  Mose  platziert,  weil  diese  Vorschrift  ritueller/kultischer und deshalb zeremonieller Natur ist? Diese Frage ist berechtigt, weil gesagt wurde, dass "es ungewiss ist, ob die Worte 'rein/unrein', wie sie in diesem Kapitel angewendet werden, eine rituelle oder religiöse Grundlage besitzen, oder ob sie hygienische Bedeutung haben." (17)

Angesichts dieser Unsicherheit stellt sich folgende Frage: Was ist die Grundlage des Speisegesetzes in 3. Mo 11? Ist sie im Ansatz und Wesen her rituell und zeremoniell oder religiös universal?

Wir haben weiter oben festgestellt, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen zwei Arten von Unreinheit gibt. Die Struktur des 3. Buches Mose informiert den Bibelleser bezüglich der nicht-rituellen, nicht-zeremoniellen rein/unrein-Unterscheidung von Tieren in 3. Mo 11 innerhalb des Kontextes von 3. Mo 12-15.

Zuerst wollen wir die literarische Struktur von 3. Mose 11 analysieren. (18) Offensichtlich besteht 3. Mo 11 aus verschiedenen Themengruppen. Die folgende Analyse versucht, die in diesem Kapitel enthaltenen Themengruppen aufzuzeigen. Wir werden viereckige Klammern benutzen, um die literarische Hauptstruktur, in dem wohlbekannten chiastischen A-B-A-Modell aufzuzeigen, das in diesem Kapitel vorbanden ist:
 

 

A. Einführung: Vers 1
B. [A] Reine und unreine Tiere, Verse 2-23

 

1. Landtiere, Verse 2-23

a. [a] Vorschrift für zum Essen freigegebene Landtiere, Verse 2-3a
b. [b] Vorschrift für nicht zum Essen freigegebene Landtiere, Verse 4-8

2. Wassertiere, Verse 9-12

a. [a] Vorschrift für zum Essen freigegebene Wassertiere, Vers 9
b. [b] Vorschrift für nicht zum Essen freigegebene Wassertiere, Verse 10-12

3. Lufttiere, Verse 13-23

a. Vorschrift für nicht zum Essen freigegebene Vogel, Verse 13-19
b. Vorschrift für geflügelte Insekten, Verse 20-23
1) [a] nicht zum Essen freigegebene geflügelte Insekten, V.20
2) [b] zum Essen freigegebene geflügelte Insekten, V. 21-22
3) [a] nicht zum Essen freigegebene geflügelte Insekten, V. 23

C. [B] Erworbene Unreinheit durch Kontakt mit oder Tragen von Kadavern, Verse 24-40

1. Erworbene Unreinheit durch Berührung oder Tragen von toten Landtieren und ihre Beseitigung, Verse 24-28
2. Erworbene Unreinheit durch Berührung von oder Kontakt mit toten Kriechtieren und ihre Beseitigung, Verse 29-38
3. Erworbene Unreinheit durch Berührung oder Tragen von toten essbaren Tieren und ihre Beseitigung, Verse 39-40
D. [A'] Unreine kriechende Tiere und Darlegung des Grundgedankens, Verse 41-45

 

1. Vorschrift für nicht zum Essen freigegebene kriechende Tiere, Vers 41
2. Vorschrift für nicht zum Essen freigegebene kleine Landtiere, Vers 42
3. Vorschrift hinsichtlich erworbener Unreinheit von nicht zum Essen freigegebenen kriechenden Tieren, Vers 43
4. Grundprinzip: Seid heilig, denn Ich bin heilig, Verse 44-45

E. Schluss, Verse 46-47

 

1. Gesetz der lebenden großen Tiere, Vogel, Wassertiere und kriechenden Tiere. (Vers 46)
2. Unterscheidung von [A] Unreinem und [B] Reinem, [B] zum Essen Freigegebenem und [A] nicht zum Essen Freigegebenem, Vers 47

 

Die literarische Struktur (19) von 3. Mo 11 macht deutlich, dass es neben dem äußeren Rahmen der Einführung (Vers 1) und dem Schluss (Verse 46-47) drei große Themenbereiche gibt, die anscheinend die chiastische Struktur A-B-A besitzen, die aus vielen Teilen des Alten Testaments und alter nahöstlicher Literatur bekannt ist.

Teil A in dem Chiasmus setzt sich aus den Versen 2-23 zusammen. Er befasst sich mit reinen und unreinen Tieren und welche dieser Tiere zum Essen freigegeben sind (Verse 2-23). Wie schon vorher erwähnt, ist die Unreinheit der unreinen Tiere nicht ansteckend und deshalb von anderer Art als vergleichsweise die Unreinheit, die erworben ist und Personen oder Dingen anhaftet.

Teil B im Chiasmus besteht aus den Versen 24-40. Diese Einheit, die zwischen die anderen Teile (Verse 2-23 und 41-45) eingefügt ist, behandelt das Thema der erworbenen, rituellen Unreinheit von toten Tieren, d. h. von Tierkadavern, und wie Reinheit wiedererlangt werden kann. Sie macht deutlich, dass ein reines Tier, das getötet wurde, um als Nahrung zu dienen, demjenigen, der es isst oder Kontakt mit ihm hat, keine Unreinheit vermittelt. Sie bestätigt, dass eine Person oder ein Gegenstand, die/der mit dem Kadaver eines Tieres, das aufgrund natürlicher Ursachen gestorben ist, in Kontakt gekommen ist, unrein wird, ganz gleich, ob es erblich unrein war oder nicht. Es werden Regeln vorgeschrieben, wie diese von Geburt an erworbene Unreinheit im hebräischen Zeremonialsystem beseitigt werden kann. (20)

Teil B scheint aus mehreren Gründen in die Mitte des Chiasmus gesetzt worden zu sein:

  1. Er ist hier wegen des Stichwort-Prinzips von "Kadaver" angesiedelt (Verse 8. 11, 24, 25 etc.)
  2. Es wird hier der Unterschied zwischen nicht-kultischer, nicht-zeremonieller Unreinheit und ritueller/kultischer, zeremonieller Unreinheit erklärt.
  3. Das Problem der Unterscheidung wird hier angesprochen. Tiere, die für Nahrungszwecke getötet werden, verunreinigen den Menschen nicht. Tiere, die auf natürliche Weise sterben, verursachen dann Unreinheit, wenn sie berührt werden.
  4. Die Bedeutung der Heiligkeit von beiden wird hier aufgezeigt.

Teil A' umfasst die Verse 41-45. Er ist der dritte Teil des Chiasmus und kehrt zum Thema unreiner Tiere, die nicht gegessen werden sollen, zurück. Eine Kategorie von Tieren wurde in der vorausgegangenen Taxonomie (Verse 2-23) nicht berücksichtigt. Die erste Hauptgruppe von "Tieren" (chayyah) in den Versen 2-11 besteht aus großen Land-"Tieren" (behemah), die zweite umfasst Wassertiere (Verse 9-12) und die dritte betrifft die geflügelten Tiere (Verse 13-23). Die Gruppe, die in dieser Taxonomie der Tiere fehlt, sind die kleinen Landtiere, die auf dem Bauch kriechen, kleine Vierfüßler und vielfüßige Tiere. Mit dieser Gruppe befasst sich jetzt dieser dritte Abschnitt.

Kurz gesagt: Die Teile A und A' beschäftigen sich mit der universalen Gesetzesangelegenheit; in diesem Fall ist es das Speisegesetz. Sie behandeln die nichterworbene Unreinheit, während sich Teil B des Chiasmus mit der erworbenen, rituellen/kultischen Unreinheit eines zeremoniellen Typs befasst; diese wird erkennbar, wenn jemand den Kadaver eines Tieres berührt, das eines natürlichen Todes gestorben ist. Teil B ist hier wegen des Stichwort-Prinzips und der benötigten Definition eingefügt, welche Art von Kadaver rituell verunreinigt, nämlich der eines Tieres, das eines natürlichen Todes gestorben ist und nicht eines, das geschlachtet wurde, um als Nahrung zu dienen. Mit anderen Worten: Ein Tier, das für Nahrungszwecke getötet wird und das Fleisch dieses Tieres, das als Nahrung verzehrt wird, verunreinigt weder rituell noch zeremoniell. Diese mittlere Abteilung, Teil B im Chiasmus, sorgt deshalb für eine wichtige Klarstellung in Bezug auf die Frage, ob jedes tote Tier verunreinigt. Die Antwort ist eindeutig: Nur das Tier, dass eines  natürlichen Todes stirbt, verunreinigt zeremoniell.

Nachdem wir die unmittelbaren kontextuellen Beziehungen in Betracht gezogen haben, müssen wir in den größeren Kontext eindringen und untersuchen, weshalb der Autor des 3. Buches Mose das Thema der reinen und unreinen Tiere und das Speisegesetz, ein universales Gesetz, das in einem allgemeinen Sinn gültig ist, an diese Stelle des Buches gesetzt hat.

Neben verschiedenen möglichen Gründen scheint es auch

  1. literarische und kompositionelle Gründe und
  2. einen thematischen Grund zu geben, die offensichtlich eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen diese betrachten:

1. Die literarischen und kompositionellen Gründe scheinen in zwei Aspekten offenkundig zu sein. Der erste Aspekt liegt in der Tatsache, dass der ganze dritte Teil des 3. Buches Mose, nämlich die Kapitel 11-15, in einer generellen Weise das Thema Unreinheit/Reinheit (21) behandelt, einschließlich der nicht erworbenen und nicht übertragbaren als auch der erworbenen und übertragbaren Unreinheit. Deshalb ist es ganz natürlich, sich mit beiden Arten von Unreinheit und Reinheit vom Standpunkt der kompositionellen Technik und des Stoffes her zu befassen.

Zusätzlich zum Chiasmus A-B-A verwendet der Autor, wie bereits weiter oben erwähnt, einen literarischen Kunstgriff, bekannt als "Stichwort"-Prinzip. Manchmal stellen die Bibelschreiber die Themen ohne logische und folgerichtige Ordnung auf der Grundlage eines "Stichwortes" nebeneinander. Das scheint auch hier der Fall zu sein. Am Ende der Gesetzgebung, die das Heiligtum betrifft, die schon in 2. Mo 25 begann und sich bis 3. Mo 10 erstreckt, (22) werden zwei Schlüsselthemen erwähnt.

Das erste erscheint in 3. Mo 10, 10, nämlich die Unterscheidung, "was unrein und rein ist". Dies wird zum Hauptthema von 3. Mo 11-15. Das zweite ist das Schlüsselwort "essen", das man nicht weniger als sechsmal in 3. Mo 10, 12-19 findet (Verse 12, 13, 14, 17, 1 , 19); der Abschnitt, der direkt 3. Mo 11 vorausgeht. Diese beiden Schlüsselworte "rein/unrein" und "essen" bedingen die Themen von "reinen/unreinen" Tieren und welche man von ihnen "essen" darf d. h. das Speisegesetz, dass an diese Stelle in 3. Mo 11 gesetzt wird. Wenn diese Erkenntnis von Bedeutung ist, dann kann man verstehen, weshalb ein universales Gesetz in diesen Kontext eingefügt werden kann, und warum das Speisegesetz in diesem Kontext nicht als zeremoniell verstanden werden sollte.

Die Anerkennung dieser inneren literarischen und kompositionellen Technik scheint deutlich zu machen, weshalb etwas, das nicht-kultischer und nicht-zeremonieller Natur ist (3. Mo 11, 2-23), einem Abschnitt vorausgeht und folgt (3. Mo 11, 41-45), der kultischer und zeremonieller Natur ist (3. Mo 11, 24-40). Die Annahme, dass alle Dinge hinsichtlich rein/unrein unbedingt kultisch oder zeremoniell sind, nur weil sie in einem Buch, in einem Abschnitt eines Buches oder in der Nähe kultischer Dinge angesiedelt sind, scheint vollkommen unhaltbar, wenn man, die kompositionelle Technik versteht, die der Autor anwendet.

2. Jetzt erfordert der thematische Aspekt kurze Beachtung. Das Thema von Tieren, "die in sich selbst  unrein  sind",  (23)  d.  h.  die  von  Geburt  oder  erblich  unrein  sind  und  als "verabscheuenswert" und nicht zum Essen freigegeben erklärt wurden, als auch jene, die rein und zum Essen freigegeben sind, wird an den Anfang des ganzen Abschnittes von 3. Mo 11-15 gesetzt. Nachdem dieses Thema in 3. Mo 11 abgehandelt worden ist, geht der Autor zum Thema der erworbenen rituellen Unreinheit und den kultischen Ritualen zur Beseitigung dieser erworbenen Unreinheit oder Unreinigkeit in den anderen Teilen von 3. Mo 12-15 über. Auf diese Weise bewegt sich der Autor vom Thema der generell nicht-kultischen Angelegenheit der angeborenen Unreinheit von Tieren, die nicht zum Essen freigegeben sind d. h. von der nicht-erworbenen Unreinheit zu einem umfassenderen kultischen Thema der erworbenen Unreinheit, die ritueller und zeremonieller Natur ist. Der kompositionelle Übergang von einer generellen, kurzen Behandlung von reinen/unreinen Tieren zu einer spezifischen und erweiterten Behandlung ritueller, zeremonieller Unreinheit findet sich auch in anderen Teilen des Pentateuch wieder. Solche kompositionellen Übergänge vom Generellen zum Spezifischen treten auch in anderen Teilen des Pentateuch zutage. Der Schöpfungsbericht in 1. Mo 1 z. B. zeigt das Bild der Schöpfung von ihrer generellen, umfassenden Seite. 1. Mo 2 enthält eine Beschreibung spezifischer, erweiterter Schöpfungsthemen, die die Erschaffung von Adam und Eva betreffen und selbst vorher nicht berührte Aspekte behandeln. Beide haben die Schöpfung zum Thema und sind dennoch in ihrer thematischen Betonung nicht identisch.

Wir haben gesehen. wie eine Reihe von Überlegungen, bezüglich der nicht-zeremoniellen Unterscheidung zwischen rein/unrein, in 3. Mo 11, 2-23, 41-45 zu erklären scheint, warum dieser Abschnitt an diese Stelle des Buches platziert wurde. Die Vorschriften, die das Heiligtum selbst betreffen und in 2. Mo 25 begannen, werden in 3. Mo 10 zu Ende geführt. Es ist ganz natürlich, dass das Thema Reinheit und Unreinheit nun behandelt werden muss. Es ist kein Zufall, dass den beiden "Mose und Aaron" diese neuen göttlichen Instruktionen gegeben wurden, wie es in 3. Mo 11, 1 (3. Mo 13, 1; 14, 33; l5, 1) berichtet wird. Dieser Wortlaut steht im Gegensatz zu einigen vorausgegangenen Instruktionen im 2. und 3. Buch Mose. Niemals vorher hatte Gott beiden Führern gleichzeitig irgendeine Anweisung gegeben. Gott spricht durch beide Führer und wendet sich jetzt an Israel als Ganzes (3. Mo 11, 2). Durch das "Stichwort"-Prinzip werden die Themen "rein/unrein" "essen" aufgenommen, ohne zwangsläufig  den  Gesamtinhalt  von  3.  Mo  11-15  in  einem  kultischen,  opferbezogenen  oder  rituell/zeremoniellen Kontext einzubringen.