Die Seelen unter dem Altar (Offb 6,9-11)

"Und als es das fünfte Siegel auftat, sah ich unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen. Und sie schrien mit lauter Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? Und ihnen wurde gegeben einem jeden ein weißes Gewand, und ihnen wurde gesagt, dass sie ruhen müssten noch eine kleine Zeit, bis vollzählig dazukämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch noch getötet werden sollten wie sie." (Offb 6,9-11)

Besonders in der Offenbarung, in der eine Vielzahl von Symbolen verwendet wird, muss sorgfältig untersucht werden, wann wir es mit einem Symbol zu tun haben und wann dies nicht der Fall ist. Da stellt sich zunächst die Frage, ob hier wirklich die Märtyrer in der himmlischen Seligkeit "mit lauter Stimme" um Rache schreien? Dieses ist mit dem Geist der Märtyrer unvereinbar, denn viele beteten für ihre Verfolger. Stephanus ruft, als die Juden ihn steinigten:

"Er [Stephanus] fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er." (Apg 7,60)

Dies ist ein Hinweis darauf, dass in der Offenbarung die Märtyrer nicht um Rache rufen, sondern dass bildlich etwas anderes ausgedrückt werden soll.

Die Rache Gottes ist nicht wie der menschliche Zorn, sondern das Schaffen von Gerechtigkeit. Gott weiß in jedem Fall, was den Märtyrern angetan wurde und wird für Gerechtigkeit sorgen. Wenn Ungerechtigkeit widerfahren ist, so rufen oft Gegenstände oder Personen symbolisch den Herrn an und fordern Gerechtigkeit. So ruft der Lohn der betrogenen Arbeiter in Jakobus 4,5 und so schreit das Blut Abels von der Erde zum Himmel in 1. Mose 4,10. Die "Seelen" vor dem Altar Gottes symbolisieren den Ruf nach Gerechtigkeit. Die Märtyrer sind in den Augen Gottes natürlich schon gerechtfertigt, und so wird ihnen als Zeichen dafür symbolisch ein weißes (=reines) Gewand angelegt.

Dennoch haben die Märtyrer ihren Lohn, das ewige Leben noch nicht erhalten, denn dieses wird ihnen erst bei der Auferstehung verliehen (Hebr 11,32-40; 1Kor 15,35f). Da die Offenbarung eine wichtige Trostbotschaft für die verfolgten Christen war und ist, so zeigt diese Bibelstelle bildhaft, dass die Märtyrer vor Gott gerechtfertigt werden, und dass Gott bald ("noch eine kurze Zeit") für Gerechtigkeit sorgen wird und "einem jeden vergelten nach seinem Tun." (Mt 16,27).

Dass es hier um eine Frage der Gerechtigkeit geht, wird durch die Verwendung des Ausdrucks "Seelen unter dem Altar" angedeutet: Der Altar, also ein Opferstein bzw. Opfertisch, erinnert an den Brandopferaltar im hebräischen Heiligtum, das zur Zeit des AT eine wichtige Rolle in der Frage der Rechtfertigung vor Gott spielte. In 3. Mose 4,7 lesen wird davon, dass das Blut der Opfertiere an den Fuß des Altars geschüttet wurde. Wer damals Rechtfertigung und Annahme bei Gott suchte, fand diese durch das Geschehen am Altar. Es ist daher nicht ganz zufällig, dass die symbolischen Seelen in der Offenbarung "unter dem Altar" nach Gerechtigkeit rufen!

Tomasi merkt ferner an: »Wer meint, es handle sich wirklich um Seelen Verstorbener, die um Rache schreien, überlege folgendes: Wenn die Märtyrer im Himmel wären und ihre gottlosen Verfolger in der Hölle, wieso dann noch um Rache schreien?« [1]


[1] M. Tomasi, Gereimtes und Ungereimtes über Tod und Auferstehung, Himmel und Hölle, VCL, Gisikon (Schweiz), 1993, S. 81f