Ob lebendig oder tot … (1Thes 5,9.10)

"Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit wir, ob wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben." (1Thess 5,9.10)

Manche versuchen mit dieser Bibelstelle zu beweisen, dass die Toten schon jetzt mit Jesus zusammen leben. Dazu fassen sie die Ausdrücke "wachen" und "schlafen" als "lebendig sein" und "tot sein" auf, was durchaus legitim erscheint. Eine andere Interpretation (wörtlich oder übertragen auf den geistigen Zustand) macht an dieser Stelle wenig Sinn.

Dennoch kann der Text nicht so interpretiert werden, wie die Anhänger der Lehre, dass die Gerechten nach dem Tode direkt zum Herrn kämen, behaupten.

Die Interpretation widerspricht deutlich den Worten Pauli. Nur 12 Verse zuvor schieb er nämlich von der Auferstehung und Entrückung:

"Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit." (1Thes 4,16.17)

Da die erste Auferstehung (die der Gerechten) stattfindet, wenn Jesus kommt, lesen wir bei Johannes:

"Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin." (Joh 14,3)

Es kann nicht sein, dass Paulus einmal sagt, dass wir, nachdem der Herr gekommen ist und uns auferweckt bzw. verwandelt hat, mit ihm zusammen leben werden und dann kurz darauf sagt, dass wir, egal ob tot oder lebendig, schon jetzt mit ihm zusammen leben.

Paulus schließt in Wirklichkeit in 1Thes 5,9.10 inhaltlich an seine tröstenden Worte aus 1Thes 4,13-18 an, wo er den Stand der gerechten Toten mit den lebendigen Gläubigen vergleicht. Manche Gläubige schienen darüber bekümmert zu sein, dass einige aus ihrer Mitte entschlafen waren, bevor der Herr wieder gekommen ist (siehe Vers 13)[1].

Paulus nutzt diese Gelegenheit nicht etwa, um die Thessalonicher damit zu trösten, dass die Gläubigen nach ihrem Ableben gleich beim Herrn sind, sondern er sagt, dass kein Unterschied zwischen diesen Gruppen besteht: Die Toten werden zunächst auferstehen und dann zusammen und gleichzeitig mit den Lebenden "auf den Wolken in die Luft" dem Herrn entgegen entrückt (Verse 15-17)

So ist auch die Aussage im 5. Kapitel zu verstehen. Daher werden auch wir – ob verstorben oder noch lebendig – zusammen mit Christus leben – nach der Auferstehung bzw. Verwandlung. "Die Hoffnung für alle" Übersetzung hat den Sinn besser erfasst und übersetzt die umstrittenen Verse so:

"Christus ist für uns gestorben, damit wir – ganz gleich, ob wir nun leben oder schon gestorben sind – mit ihm ewig leben. Vergesst das nicht, und erinnert euch gegenseitig daran. So werdet ihr einander ermutigen und trösten, wie ihr es ja auch bisher getan habt."


[1] Gerade 1Thes 4,13f zeigt deutlich, dass die Idee, die Verstorbenen würden gleich nach dem Tod in die Herrlichkeit eingehen, zur Zeit der Apostel nicht verbreitet war.