Lust abzuscheiden (Phil 1,23)

Lutzer verweist immer wieder auf zwei folgende Aussagen Pauli, um zu zeigen, dass der gerechte Mensch nach dem Tod gleich in den Himmel kommt. Die erste finden wir in dem Brief an die Philliper. Im ersten Kapitel bringt Paulus seine Sorgen, aber auch seine Hoffnungen zum Ausdruck. Zu der Zeit als er den Brief schrieb, gab es einige Menschen, die ihm Kummer bereiteten. Von ihnen schreibt er:

"Jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft." (Phil 1,17)

Paulus ließ sich aber nicht entmutigen. Er fuhr fort, mit:

"Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi, wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn." (Phil 1,18-21)

Nichts, weder harte Arbeit noch Nachstellungen oder gar der Tod konnte sein Werk aufhalten. Dessen war er sich bewusst. Allerdings war weder seine Arbeit voller Anfechtungen noch sein kommender Tod in Gefangenschaft etwas, worauf er wartete. Beide Gedanken "setzten ihm hart zu". So schrieb er auch:

"Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu: ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen." (Phil 1,22-24)

Beweist diese Aussage nun, dass die Seele des Menschen nach dem Tod direkt in den Himmel geht?

Es steht fest, dass Paulus den Tod als Schlaf bezeichnet (das Sterben und Entschlafen sind für ihn Synonyme, vgl. 1Kor 11,30; 15,6.18.20.51; 1Thess 4,13.14.15). Der Tod oder der Zustand des Todes waren ihm aber unwichtig, denn der Schwerpunkt lag in seinen Ausführungen eindeutig auf der Wiederkunft Christi, bei welcher die Auferstehung und die Verwandlung (Verklärung) der Gläubigen stattfinden werden. Dieses trifft auch auf den Philipperbrief zu, in dem die von Lutzer missverstandene Aussage zu finden ist (siehe Phil 1,6.10; 3,10.11.14.20.21).

Für Paulus war nicht der Tod (und eine angeblich sofortige Seelenentrückung in den Himmel) der Grund seiner Hoffnung, sondern die Auferstehung von den Toten im Zusammenhang mit Jesu Wiederkunft, bei der Jesus alle Gerechten zu sich holen wird, damit sie dann – und erst dann – für immer bei Ihm bleiben (Joh 14,2.3; 1Thess 4,13-17, insbesondere Vers 17).

Die Aussage Pauli "Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein" ist keine Belehrung über das, was nach dem Tod geschieht oder wann wir den unsterblichen Körper erhalten – im Gegensatz zu seinen Ausführungen in 1Thes 4 und 1Kor 15, wo er sich im Detail diesem Thema widmet. Paulus drückt hier lediglich seine Sehnsucht aus, bald aus dem Leben zu scheiden, um bei Christus zu sein (ohne Bezug auf die Zeit, die zwischen diesen zwei Ereignissen liegen mag). Pauli Aussage muss in Verbindung mit seinen anderen Aussagen gesehen werden (siehe Verweise oben). Warum Paulus sein Tod und die Gemeinschaft in einem Atemzug nennt, lässt sich im Einklang mit anderen Aussagen der Bibel erklären: Der Tod ist für den Menschen wie ein Schlaf und es ist unerheblich, ob für einen Toten ein Tag oder 1000 Jahre vergehen, denn im Tode "weiß man nichts" (Pred 9,5.6.10). Das Nächste, was der Gerechte erlebt, ist die Auferweckung bei der Wiederkunft Jesu. Auch Martin Luther war dieser Ansicht. Er schrieb: ­

"Alsbald uns die Augen zufallen und wir ins Grab verscharrt werden, werden wir wieder auferweckt. Denn tausend Jahre werden für uns sein, eben als hätten wir nur eine halbe Stunde im Grabe geschlafen. Wenn wir des Nachts schlafen, so hören wir keinen Zeiger [einer Uhr] und wissen nicht die Zeit und Stunde, wie lange wir geschlafen haben. Widerfährt uns nun solches im Schlaf, vielmehr wird's uns im Tode widerfahren; tausend Jahre werden hinweg sein wie ein Nachtschlaf." (Quelle[1]: Martin Luther, zitiert von Th. Traub in "Von den letzten Dingen", Seite 65, Quell-Verlag der Evangelischen Gesellschaft, Stuttgart, 1928)

Was sollte nun Paulus wählen, wenn er die Wahl hätte? Leben oder Tod (Vers 22)? Er ringt mit einer Antwort und schreibt schließlich: "Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre". Paulus sehnt sich danach, seinen "Lauf" zu beenden, aber er weiß auch, dass die Gemeinden ihn noch brauchen. Zwar ist er von der Auferstehung überzeugt und rechnet mit seinem Lohn, dem ewigen Leben und der ewigen Glückseligkeit, "aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um" den Gemeinden noch beizustehen.

 


[1] Angabe nach "Gereimtes und Ungereimtes über Tod und Auferstehung, Himmel und Hölle" von M. Tomasi, VCL, Gisikon (Schweiz), 1993, S. 69.